Die Törnstange |
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Stand der beschriebenen Technik: Typ IV,
1957 bis 1980 |
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Die Törnstange war als Möglichkeit vorgesehen, den Motor von Hand zu törnen (zu drehen), um Kolben zum "Kolbenziehen" in Ausbaustellung zu bringen. Darunter ist an Bord von Seeschiffen der gesamte Arbeitsaufwand und -ablauf zum Herausziehen des Kolbens aus der Zylinder-Laufbuchse zwecks einer großen Reparatur nach einem Kolbenfresser (dazu unten mehr) oder auch für eine routinemäßige Kontrolle von Kolben und Laufbuchse gemeint. | ||||
Die Törnstange war ein notwendiges Zubehör zu den Hauptmotoren auf Typ IV.
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Törnen,
althochdeutsch turnen = drehen, wenden < lateinisch tornare = runden,
drechseln, zu: tornus, Turnus ([im Voraus] festgelegte Wiederkehr,
Reihenfolge; regelmäßiger Wechsel, stetige Abfolge von wiederholten
Ereignissen, Vorgängen) Nach: www.duden.de, Bibliograhisches Institut GmbH, Dudenverlag, Berlin, 2018 |
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Schematische Darstellung einer Törnstange im Eingriff in die Schwungscheibe
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Das Foto zeigt die Seitenansicht eines Teiles (rot) der Schwungscheibe (offene Klappe) der Hauptmaschine BB 1 des TRADI/DRESDEN. Das umgebende Grün ist die Verkleidung der Schwungscheibe und der Induktionskupplung mit Lüftungsöffnungen. Nennenswert sind die in die Schwungscheibe eingearbeiteten Eingriffe für die Törnstange. Im Foto ist oben abgebildet das Typenschild dieser Kupplung. Dort ist das Baujahr 1957 genannt. |
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Beim Törnen mit der Törnstange trat gelegentlich das Problem auf, dass der Motor von selbst weiterdrehte, weil sich durch fehlende (ausgebaute) Kolben ein Ungleichgewicht an der Kurbelwelle einstellte. Die Entwicklungsingenieure, die diese Törnstange als Möglichkeit vorsahen, den Motor von Hand zu törnen (drehen), konnten nicht ahnen, dass wir auf See aufgrund der vielen Kolbenfresser mitunter fast alle Kolben ziehen mussten. Nicht etwa pro Reise, sondern sogar pro Hafenliegezeit, oder unterwegs auf See. Man ging wahrscheinlich davon aus, dass nur gelegentlich, und dann auch jeweils nur 1 Kolben ausgebaut werden sollte. Gleich noch die Bemerkung, man konnte froh sein, wenn der Kolben nicht so total "gefressen" hatte, dass gleich die Laufbuchse mit gezogen werden musste. Eine Törnmaschine hatten wir zwar, aber damit ließ sich lediglich das Getriebe für die Schiffswelle und Schiffsschraube maschinell drehen. Für den Motor war das maschinelle Törnen nicht möglich, denn da war noch die Kupplung dazwischen. Diese Kupplung ließ sich aber nicht mechanisch einkuppeln, da es sich um eine Induktionskupplung handelt. Für ein Törnen des Motors war diese Törnmaschine nicht vorgesehen. Nur manuell konnte der Motor, Schritt für Schritt, getörnt werden. Eine anstrengende und gefährliche Handarbeit. Gerade fällt mir auf, dass der Konstrukteur möglicherweise vorgesehen hat, dass der Motor nur vorwärts getörnt werden sollte. Denn, gucke dir es (auf dem "Tradi") an, die zwei achteren Motoren stehen so eng beieinander, dass die Törnstange viel zu lang ist, um den Motor auch zurückzutörnen. Der unten beschriebene Unfall hing wahrscheinlich damit zusammen. Nun konnten sich aber der Mann mit der Törnstange und die anderen Leute "am Motor" in der Regel nur durch Zuruf verständigen. Blickkontakt war meist nicht möglich. Wenn nun beim Törnen der Motor unbeabsichtigt (von selbst, "wie von Geisterhand") weiterdrehte, obgleich bereits mehrmals das Kommando 'Halt' gerufen wurde, gab es Stress. Aber der Ärmste an der Törnstange konnte nicht dafür. Er konnte den langsam weiterdrehenden Motor nicht anhalten, es war nicht möglich, es war technisch nicht vorgesehen. Eine Bremse, besser eine Notbremse, gab es nicht. Natürlich konnte es dadurch für die Leute "am Motor" zu einer gefährlichen Situation kommen. Ein Törnen in die andere Richtung (Stoppen geht gar nicht, ist nicht vorgesehen, hatten wir eben gelesen), musste von der anderen Seite des Motors aus gemacht werden, so war das. Der Mann mit der Törnstange musste auf die andere Motorseite klettern, um von da aus zu törnen. Dauerte seine Zeit. Am besten, lieber Leser, Du guckst Dir das mal an – auf dem "Tradi" im Maschinenraum. Ich habe einen Unfall miterlebt, als der Mann mit der Törnstange den weiterdrehenden Motor anzuhalten versuchte. Das war kein Leichtsinn oder gar Dummheit, nein, die Situation für die Leute am Kolben wurde so gefährlich, dass sie förmlich um Hilfe riefen, weil der Motor weiterdrehte. Und da hat unser Mann versucht, die Törnstange entgegen der vorgesehenen Arbeitsweise zu nehmen, und den Motor zu stoppen. Was aber nicht gelang. Die Törnstange ist schwer, man kann sich die Füße damit quetschen. Bei diesem Unfall kam aber noch die Hebelwirkung dazu, die vom drehenden Motor ausging. Vorstehende Story betrifft die GERA. Aber, lieber Leser, so war es doch
auf allen Typ IV-Schiffen. |
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In diesem Foto ist die Verwerfung unterhalb des Steges (der Steg ist die Auflage für die Törnstange) zu sehen. Diese Verwerfung ist typisch dafür, wenn die Törnstange falsch angesetzt oder zum "Bremsen!" genutzt wurde. Da konnte der Macher nur froh sein, dass er die Stange nicht unters Kinn geknallt bekam. |
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Für die Leser, die den Begriff 'Schleifhexe' nicht kennen, hier die Auflösung: Ihr kennt doch eine 'Flex'. So ähnlich ist auch eine Schleifhexe. So wie eine Handbohrmaschine, aber mit einer eingespannten Schleifscheibe, oder aber mit einer eingespannten rotierenden Drahtbürste. Fast jeder Bastler hat so ein saugefährliches Elektrogerät in seinem Equipment (in seiner Gerümpelkiste). Bei uns an Bord wurde mit einer Schleifhexe, hier allerdings meist mit Pressluftantrieb, die Zylinderlaufbuchse nach einem Kolbenfresser bearbeitet (verschliffen). Ein Maschinist kroch in den Zylinder hinein. Es war sehr enge. Er stand dann mit seinen Füßen auf der Kurbelwelle, bzw. auf einer der Schwungmassen. Dann wurde ihm von oben die Schleifhexe gereicht. Ein schweres unhandliches Gerät. Und los ging es. Schön warm da drinnen in der Zylinderlaufbuchse? Naja, der Motor ist ja nun inzwischen bissel abgekühlt, aber beachte, so um die 40 bis 50 Grad sind da schon noch. Unser Mann mit der Schleifhexe muss sich, so paradox es klingen mag, dick anziehen. Es gab zwei Arten von Fress-Spuren. Entweder war Material von dem Kolben auf die Lauffläche der Zylinderbuchse aufgetragen, aufgeschmiert, ja fast verschweißt, oder aus der Laufbuchse wurde Material herausgelöst. Das aufgeschmierte Material, Aluminiumlegierung vom Kolben, wurde mit der Schleifhexe abgeschliffen. Falls aus der Zylinderlaufbuchse Material herausgerissen war, da musste man ja nicht noch tiefer schleifen, lediglich etwas glätten. Die Fress-Spuren am gezogenen Kolben werden mit Feile und Schaber bearbeitet. Lieber Leser, gestatte mir eine kleine Abschweifung: Wenn ich mir heute die vielen übergewichtigen jungen Leute angucke, kann ich nur denken: Die würden da nicht in die Laufbuchse hinein passen. Oder vielleicht doch? Aber wieder heraus kämen die nie. Heutzutage jedoch muss aber auch keiner mehr in die Zylinderlaufbuchse hinein kriechen. Man kann doch einen Service (0800 kostenlos) rufen – es darf gelacht werden. Eine Zylinderlaufbuchse gibt es auf dem Traditionsschiff DRESDEN zu sehen. |
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"Die Törnstange": Seeleute Rostock e.V., 1.1.2018 |
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04.01.2018 |