|
www.seeleute-rostock.de/content/sailorscab/stories/14/schmerzen.htm |
| SlR.sc14 [14.F4] |
|
Stephan Bohnsack, Rostock
See-Wehwehen
Kubanische Kakteen sind wehrhaft
Bei mehreren Ausflügen in verschiedenen Karibikhäfen
sammelte Stephan Pflanzen,
speziell bestimmte Kakteen, bis sich eines Tages diese Geschichte
abspielte. |
Stacheln im
Hintern können das Leben ganz schön erschweren, besonders dann, wenn
sie kräftig gewachsen und lang genug sind, um tief ins Fleisch eines
Opfers einzudringen. Die Stacheln meiner gesammelten kubanischen
Feigenkakteen waren auch kräftig gewachsen, wie sich herausstellte, nämlich
als wir sie nacheinander aus dem Sitzfleisch eines Mitgliedes unserer
Decksgang herauszogen.
Die besagte Nacht in Havanna war für uns genauso unangenehm schwül
wie alle vorangegangenen, denn keiner von uns auf dem Typ-IV-Schiff
konnte ohne Klimaanlage wirklich gut schlafen. Für jeden kühlenden
Hauch führten wir ein wahrhaft "offenes" Bordleben, welches
aber in der Besatzung einen einzigartigen Zusammenhalt mit engen
Kontakten schaffte, manchmal sogar mit recht skurrilen, wie das nun
folgende Erlebnis schildert.
Kurz vor Mitternacht, gerade vom Landgang zurückkehrend und an Bord
dem Lärm in der Nähe meiner Unterkunft folgend, betrat ich die weit
geöffnete Kammer des Bäckers im Achterschiff.
Eine filmreife Szene
Hier erwartete mich ein Anblick, den ich leider für die Nachwelt
nicht bildlich festhalten und vorerst auch für mich nicht einordnen
konnte: Mein Kollege hing tief nach vorne gebeugt auf der Back, die
Hose von der Hüfte bis tief hinab in die Kniekehlen gezogen, die
blanken Rundungen seines Achterstevens weit hochgestreckt - dabei aber
eine dampfende Zigarette zwischen den Lippen. Er war eben ein echter
Raucher, der heute nur mal etwas tiefer in die Flasche geschaut hatte.
Der Bäcker kniete hinter ihm. Der Aschenbecher stand übervoll auf der
befleckten Tischdecke, genau vor der Nase des gerade in Behandlung
befindlichen "Klienten". Etliche leere Flaschen lagen kreuz
und quer auf dem Boden. Es roch so, wie es aussah.
Für den Bäcker, der die "WBS"-, "Vita Cola"- und
"Hafenbräuflaschen" leeren half, war es Ehrensache, als
"praktizierender Operateur" einzuspringen und dem Kumpan zu
helfen, schließlich kannte er sich mit Fleisch aus - er war zwar Bäcker,
arbeitete aber auch in der Kombüse. Jetzt kniete er allerdings auf
sehr wackeligen Beinen tief gebeugt hinter seinem "Patienten"
und schien tief in dessen Hintern zu schauen, so wie in einen
Fernseher. Wer Phantasie besitzt, kann sich leicht vorstellen, dass
dieses "Ensemble" auf den ersten Blick einen sehr seltsamen
Eindruck auf mich machte. Doch beim genaueren Hinsehen erkannte ich den
Sinn - der Bäcker suchte nach Kaktusstacheln, die sich nun im
Allerwertesten des Kumpels verteilt befanden. Ausgerechnet, wie sich zu
meinem Schreck herausstellte, von Kakteen meiner Sammlung!
Der Kollege setzte sich kurz vorher, jedoch unfreiwillig, auf meine
botanische Sammlung, als er versehentlich den Kammereingang
verwechselte und in meine Kammer stolperte. Der große Blumenbottich,
der sich auf halbem Wege befand, stoppte seinen Lauf. Er musste eine mächtige
Schlagseite gehabt haben, denn irgendwie geriet er mit seinem
Achtersteven in eine für ihn recht unangenehme Position und havarierte
letztendlich mit meinen Kakteen. Ich hatte die Kammer nicht
verschlossen, um das Schott auf dem Haken lassen zu können. Ohne
Klimaanlage war der geringe Luftzug die einzige Kühlung.
Blumenbottich als Bremse
Mein selbstgezimmerter Blumenbottich bremste den Taumelnden
ruckartig, als er dagegen stieß, sich dabei wohl drehte, um mit dem
Podex genau darauf zu landen. Einige wunderschöne Kakteen zerbrachen,
rote und gelbe Blüten waren ärgerlicherweise abgebrochen, und der
Kollege selbst lag jetzt infolgedessen einige Kammern weiter zu einer
"Notbehandlung" auf der Back des Bäckers. Seine Strafe
folgte also unmittelbar. Meine Kakteen wehrten sich nämlich, scheinbar
instinktiv, mit ihren großen und kleinen Stacheln gegen den
"Sitzangriff", so gut sie es konnten. Und sie konnten sich
gut wehren, denn am Ende der "Operation" zählten wir unzählige
Beweisstücke, große und kleine Stacheln, die wir gemeinsam aus dem
Fleisch seines Sitzfleisches bargen. Allerdings schienen Patient und Bäcker,
dank vieler flüssiger "Hilfsmittel", gleichermaßen
empfindungsfrei.
Das war wohl wieder ein Wink dafür, das die Erfindung von
"Weinblattsiegel" und "Hafenbräu" für uns
Fahrensleute als überzeugendster Beweis dafür gelten konnte, dass der
Meeresgott uns alle liebte und egal, wo wir auch gerade waren, einfach
nur glücklich sehen wollte.
Unsere beiden Sünder zeigten die notwendige Ruhe und seemännische
Gelassenheit, denn nur dadurch konnten sie nach der gemeinsamen
abendlichen Genussfreude das anschließende Übel ertragen, fanden außerdem
ja auch noch keine Zeit, um überhaupt an Schmerzen zu denken -
jedenfalls nicht zu dieser Stunde.
Beide merkten glücklicherweise davon nicht sehr viel - der Patient
nicht die Momente, in denen der Bäcker mal wieder mit der Pinzette,
oft volle Kraft daneben, in das Patientensitzfleisch ziepte - der Bäcker
nicht die kleinen Bluttröpfchen, die sein übermäßiger Druck auf das
Sitzfleisch des Kumpans mit der Pinzettengabel hervorbrachte, weil er
selbst nach den abendlichen Genussfreuden noch immer leicht
empfindungsarm war. Es war ja auch nicht sein Fleisch und Blut. Mich
schmerzte es allein beim Zuschauen. Also gesellte ich mich hinzu und
half, die Operation schnell zu Ende zu bringen. Ob wir alle Stachel
erwischten? Ich glaube nicht, denn der Patient hatte inzwischen
aufgeraucht und wurde ungeduldig und wurde daraufhin
"entlassen". Falls noch einige fast unsichtbare Stachel drin
blieben, würde der Körper sie sowieso nach außen abstoßen, was er
dann auch tat. Am nächsten Morgen und auch noch längere Zeit danach
waren die Hinterbacken des "Patienten" an vielen Stellen mit
großen und kleinen Rosetten verziert, die in der Mannschaftsdusche
regelmäßig und genau registriert werden konnten - solange sie noch zu
sehen waren. Viel später, kurz vorm Heimathafen, waren sie immer noch
sehr gut zu erkennen. Der Bäcker wusste allerdings am nächsten Tag
nichts mehr von den Geschehnissen der letzten Nacht.
Herzlichen Dank an Stephan für
seine Kurzgeschichte, die sich 1970 auf
dem MS "Berlin" (1) während einer Hafenliegezeit in Havanna
zutrug.
|
Grafiken: "ABC_of_Pics",
50.000 lizenzfreie Cliparts, (c) 2006 - Franzis Verlag GmbH, Poing,
Germany
"Wehrhafte Kakteen": Seeleute Rostock e.V., August 2011 |
Mit einem "Veilchen" in japanischem Hospital
Von einem Krankenhausaufenthalt in Yokohama
|
Für jeden Fahrensmann ist es ein Albtraum, während
einer Reise zu erkranken. Andererseits gibt es bekanntlich gerade in
Asien Wundermedizin gegen alle Arten von Krankheiten zwischen Syphilis
und Rheuma. Man geht dort nicht gleich zum Arzt, sondern zunächst zum
Apotheker, der einem tief in die Augen oder gleich auf die betroffene
Stelle schaut und nach seiner ihm eigenen Diagnose eine geheimnisvolle,
täglich mehrmals zu trinkende Teemischung vermengt, und das
Gesundheitsproblem würde dann bald beseitigt sein.
Eine asiatische Apotheke - getrocknete Kräuter und Wurzeln aller Art,
hochgestapelt oder von der Decke hängend, riesige Schränke mit
kleinen Kästchen, angefüllt mit Blüten, Körnern, getrockneten
Seepferdchen und Tigerpenissen und solcherart weiter - das ist der
visuelle Eindruck vom Umfeld der Heilkünstler neben den vielen im Raum
schwebenden Gerüchen.
Auf eine Frage voller Zweifel antwortete mir ein chinesischer Apotheker
in Singapur mit Hinweisen auf die jahrtausendalten Erfahrungen der
asiatischen Heilkunst. Erstaunlicherweise befand sich seine Apotheke
innerhalb eines gehobenen Singapurer Restaurants. Essen, Schlemmen, Völlegefühl,
Verstopfung, und anschließend alles mit Hilfe eines Mittelchens wieder
Abführen zu können - hier lebte man gesund, und so erschien mir seine
Apotheke an diesem Ort irgendwie als ganz schön praktisch.
Lieber gar nicht erst krank werden...
..., aber wenn es einen doch mal außerhalb Europas erwischen
sollte, dann bitte nicht in Afrika oder Südamerika, sondern vielmehr
am besten in Asien. Allerdings interessiert es weder den Blinddarm, den
Zahnschmerz oder einen Bein- bzw. Armbruch - es kommt, wo es kommt, in
irgendeinem Hafen oder gar auf hoher See.
Ein Matrose unserer Besatzung hatte Glück im Unglück, denn sein
Blinddarm meldete sich bei den Lösch- und Ladearbeiten direkt in
Hongkong. Er musste dringend in ein Krankenhaus eingeliefert werden, um
operiert und nachbehandelt zu werden. Seine Reise war somit in Hongkong
beendet. Gut abgepasst, denn der nächste Hafen war Whampoa gleich
flussaufwärts hinter Hongkong, im roten China, wo es damals moderne
medizinische Technik noch nicht gab und die
"Kulturrevolution" in vollem Gange war. Insgeheim beneideten
wir ein wenig unseren Kameraden um seinen verlängerten Aufenthalt im
quirligen, supermodernen Hongkong.
Was damals niemand wissen konnte - auf dieser Reise sollte es einen
weiteren Patienten geben ...
In Yokohama passierte es...
Der Kurs unseres Schiffes, der "Freyburg" (vgl. Typ-XD),
führte bereits weiter in den Norden nach Yokohama in Japan. Die
Temperaturen glichen schnell wieder den europäischen, und viele von
uns "Schnupfelten" deshalb. Sofort nach dem Festmachen in
Yokohama öffneten wir die Luken für den Lösch- und Ladebetrieb.
Dabei behinderte ein Stauholz das Öffnen der Luke 2, und ich griff
kurzerhand zur Säge. Auf einmal geriet ein winzigkleiner Sägespan,
welcher durch den aufgekommenen Wind hochgewirbelt worden war, in mein
linkes Auge. Ein Reflex zwang mich unüberlegt zum Reiben. Das Minispänestück
kam aber nicht aus dem Auge heraus, sondern ich drückte es dabei sogar
noch durch sämtliche Häute meines Auges. Am nächsten Morgen war es
dick geschwollen, und schon am Nachmittag sah es nach gefährlicher
Entzündung aus, denn auch Erkältungsviren nutzten inzwischen die
Wunde als Eingang in die warmen Gefilde meines Körpers.
Der Makler brachte mich nicht wie zunächst befürchtet nur zum
Apotheker, sondern gleich in eine Augenklinik. Für den Augenarzt stand
nach der Untersuchung am 24. März 1972 fest, dass entweder
schnelle stationäre Behandlung erfolgen sollte oder ein Verlust des
Augenlichtes drohe.
Ich packte also meine Plünnen, "musterte ab" und zog samt
Seesack in das Hospital um, dem SATO OPTALMIE HOSPITAL, Onrecho 6-90,
Yokohama, Tel 68/0839. Vorher musste jedoch den japanischen
Einreiseformalitäten Genüge getan und mit Seefahrtsbuch eine behördliche
Aufenthaltsgenehmigung beantragt werden. Hätte ich das alles vorher
gewusst, wären meine Bartstoppeln abrasiert gewesen, aber Hein Seemann
als Seewetterfrosch ist noch lange kein Hellseher. Unrasiert, ziemlich
lang behaart und mit einer schwarzen Augenbinde machte ich sicherlich
nicht den besten Eindruck auf die Einheimischen. Aber es half nichts,
es ging um mein Augenlicht, nicht um eine "Brautschau".
Ein kleines Einzelappartement mit großen Fenstern und einem
"Wunderding" im Badezimmer wurde also für die nächste Zeit
mein japanisches Zuhause. Das "Wunderding" war eine in den
Boden eingelassene Sitzbadewanne, in der man in Fußbodenhöhe bequem
wie in einem Sessel saß. Alles - die Einrichtung und das Tempo der
Therapie - war selbstredend japanisch, denn sofort und ohne Zeitverzug
musste ich in der Klinik zur Behandlung antreten. Hier lief alles nach
exaktem Plan - es war wie auf einem Schiff organisiert.
Hautnahes Erlebnis: Der Stellenwert der Hygiene in
Japan
Die sorgfältige Gesundheitskunst der Japaner war eine unmittelbare
Erfahrung für mich Europäer. Meine nagelneue Augenklappe wurde mit
Hilfe einer Holzzange - bloß nicht mit der Augenklappe in Berührung
kommen! - sofort und als unhygienisch von einer Schwester entsorgt. Dafür
bekam ich eine japanische Augenklappe auf den Mullverband, bestehend
aus desinfizierbarem Metall und wie bei einem Sieb mit unzähligen Löchern
durchsetzt. "Damit die Wunde atmen kann." Jede zweite Stunde
musste ich von nun an in der unteren Etage der Klinik zur Behandlung
erscheinen: Augen reinigen, Augentropfen, Spritze über oder neben das
Auge und immer wieder gründliche Reinigung der Augenklappe. Mal die
Zeit verschlafen oder eine Behandlung auslassen - nicht in Japan! Denn
dann klingelte spätestens zwei Minuten nach dem "verpassten"
Termin erbarmungslos das Telefon, oder jemand vom Klinikteam erschien
sogleich persönlich.
Im Laufe der Zeit gewöhnte ich mich an den minutiösen
Behandlungsrhythmus und an die eiserne Disziplin der Japanerinnen und
Japaner, die sogar beim kleinen Schnupfen eine Binde vor Mund und Nase
trugen. In Europa unvorstellbar.
Verständigung und Verpflegung gut
Die Konversation in dieser Klinik in Yokohama stellte kein Problem
dar. Das Personal sprach auch französisch, englisch und sogar etwas
deutsch. Ich bediente mich zumeist meiner Muttersprache, obwohl ich
inzwischen ein paar japanische Worte drauf hatte. Zum Beispiel bedankte
ich mich nach der täglichen Reinigung des kleinen Appartements oder
nach dem Servieren der Speisen in der Landessprache mit
"Arigato" (Danke), einer kleinen netten Geste gegenüber den
japanischen Krankenschwestern. Nicht alles, was mir serviert wurde,
fand den Beifall meiner Geschmacksnerven. Und wenn doch mal Reste auf
dem Teller zurückblieben, bedauerte ich es so höflich, wie es in
Japan Usus ist - "Gomen Nasai" (Entschuldigung). Allerdings
kam das eher selten vor, denn mein Appetit war so gut wie die Kost. Ein
japanisches Sprichwort sagt: "Hast du Gift gegessen, iss die Schüssel
gleich hinterher." Das aber war bei dem echt guten
"Japanisch" zum Glück nicht nötig.
Morgens begann der Tag für mich oft mit Haferflockensuppe,
Spiegeleiern, Toast und Obst. Reis dominierte bei den weiteren
Mahlzeiten. Kartoffeln gab es oft nur als Gemüsebeilage. Pilze, Eier,
Shrimps, Fisch, Geflügel und Schweinefleisch wechselten sich ab oder
waren manchmal auch zugleich vertreten. Mehrere unterschiedliche Soßen,
die neben den Speisen in kleinen Schüsselchen aufgestellt wurden,
sollten dem Essen Geschmack und Note geben - zwischen süß und salzig.
"Shoyo" nennen die Japaner ihre Sojasauce, einem schwarzen
und mit Salz versetztem Ferment aus Sojabohnen, in der japanischen Küche
genauso unentbehrlich wie "Wasabi", dem japanischen
Meerrettich, der als Pulver aufgetischt wird. Etwas Shoyo wird mit dem
grünlichen Wasabi-Pulver so verrührt, dass seine Schärfe nicht mehr
das Wasser in die Augen treibt. Jeder Bissen sollte vor seinem Verzehr
in Soßen getunkt werden.
Ob meine Kameraden mich wegen des langen Aufenthaltes in Japan auch ein
wenig beneidet hatten? Aber sie wussten nicht, dass ich meine
japanische Wohnung auf Zeit aus Hygienegründen nur zum Klinikbesuch
verlassen durfte, und die befand sich auch noch im gleichen Gebäude.
Eingeschränkt reisefähig
Langsam besserte sich meine Verletzung, und der Arzt bescheinigte
endlich Bewegungsfreiheit, allerdings vermindert und mit der Auflage zu
ärztlicher Kontrolle im nächsten Hafen und Weiterbehandlung in der
Heimat. Die "Freyburg" war zwischenzeitlich in Korea gewesen,
sollte nun Ladung von Kobe nach Europa bekommen und kehrte also bald
nach Japan zurück, allerdings in jenen anderen, mehrere hundert
Kilometer entfernten Hafen. Ich freute mich natürlich sehr über diese
Fügung, denn die Reise mit dem berühmten Shinkansen-Express von
Yokohama nach Osaka über Fuji, Nagoya und Kyoto vorbei am berühmten
Hamamatsusee samt Weiterfahrt mit der S-Bahn nach Kobe brachte endlich
neue Eindrücke und Erlebnisse, und gerade danach war ich nach meiner
"Klinikhaft" wie ausgehungert.
|
Herzlichen Dank an Stephan für
seine Erinnerung
in jenen für Japan besonders schmerzlichen Wochen 2011.
"Ein 'Veilchen' in Japan": Seeleute
Rostock e.V., März 2011 |
Hanoi-Ausflug mit Spezialitätenmahl unter Zahnschmerzen
|
Länger als wir dachten und noch viel mehr Tage als
überhaupt geplant dauerte die Liegezeit im zweitgrößten Hafen
Vietnams, Haiphong, auch als "Hafen von Hanoi" bezeichnet.
Schiffe der DSR, aus Polen und aus der Sowjetunion liefen den Hafen
regelmässig an, während des damaligen Kriegszustandes, davor und auch
danach. Maschinenteile, Baugerät, Lebensmittel und andere
lebenswichtige Güter wurden hier gelöscht. Für die Vertretung unseres
Staates, die in der nordvietnamesischen Hauptstadt Hanoi ihr Domizil
hatte, brachten wir während einer Asienreise in den 1960er Jahren ein
paar Lebensmittel aus der Heimat mit. Große Freude bereiteten wir ihnen
mit den lange entbehrten Delikatessen aus der Heimat, die für uns ganz
simpel erschienen, aber hier und für unsere Landsleute zu den
unerreichbaren heimatlichen Leckerbissen zählten. Schwarzbrot, Thüringer
Rostbratwürste, deutsches Bier der Marke "Hafenbräu" und ähnliches.
Wir sahen dies natürlich ganz anders, denn wir hatten ja täglich
heimische Leckerbissen auf der Back. Ich hätte mich eigentlich mal über
asiatische Kost gefreut. Aber so sind wir, was wir gerade nicht haben,
das wollen wir - und wenn möglich, dann sofort.
Unsere dortigen Landsleute erwarteten also die Fracht schon ungeduldig.
Sie kamen extra mit großem Auto aus Hanoi, fuhren direkt vor das
Schiff, um die Fracht abzuholen, in Wirklichkeit wohl auch, weil ihr
Vertrauen in die Schnelligkeit der nordvietnamesischen Post auf sehr
wackeligen Beinen stand, und von den Leckerlis sollte ja in dem
feuchtwarmen Klima nichts verderben. Man hatte hier eben seine
Erfahrungen. Wir löschten die Fracht mit unserem Ladegeschirr selbst.
Ein Tagesausflug in die ca. 160 km entfernte Hauptstadt Hanoi, zu dem
man uns einlud, war dann Ausdruck ihres Dankes - und durchaus ernst
gemeint.
"Austauschköpfe" als Pfand
Einfach war die Ausflugaktion durch die damals strengen
vietnamesischen Bestimmungen bestimmt nicht, denn für jeden Seemann,
der das Schiff für den Ausflug verlassen wollte, musste eine Person der
Vertretung an Bord gehen und dort bis zur Rückkehr der Ausflügler
bleiben. Es war sozusagen ein Pfandhandel. Die Kopfzahl musste für die
vietnamesischen Behörden rechnerisch stimmen, egal, ob Mann, Frau, oder
Kind dahinter steckten.
Am festgelegten Tag stand der "Robur"-Bus der Vertretung mit
den Austauschkandidaten vor dem Schiff. Unsere vietnamesischen
Landsleute erwartete ein ganzer Schiffstag, für sie endlich ein Tag mit
lang vermisster heimatlicher Küche, Kaffee und Kuchen und sogar typisch
heimatlichem Abendessen. In der Kombüse gab man sich immer, jetzt aber
ganz besondere Mühe. Die kulturelle Umrahmung ihres Schiffsaufenthaltes
bildeten eine Schiffsführung und Filme aus der Heimat, die wir zur
Gestaltung unseres kulturellen Bordlebens mitführten und selbst auch
schon etliche Male angeschaut hatten. Die Filme waren für sie noch
brandneu, verkürzten ihnen diesen Tag an Bord.
Unser spannendstes Ausflugserlebnis
Der "Robur"-Bus war kein Luxusgefährt mit Klimaanlage und
Klo, dafür aber mit kräftigen und harten Blattfedern, die bei jedem
Huckel zu spüren waren. Von denen gab es zwischen Haiphong und Hanoi
eine ganze Menge, denn Straßen im europäischem Sinne waren in diesem
Teil Nordvietnams offensichtlich noch nicht gebaut. Bei starkem Regen
wurden viele Straßen sogar unpassierbar, und Ortschaften, die sie
eigentlich mit der Welt verbinden sollten, waren plötzlich von der Außenwelt
völlig abgeschnitten, erzählte unser Begleiter. Zum Glück traf uns
ein solches Ereignis nicht, es gab zwar Wolken am Himmel, aber manchmal
schaute die Sonne freundlich durch. Nach kurzer Fahrtzeit kam schon das
erste spannende Ausflugserlebnis: Wir überquerten in
schwindelerregender Höhe einen Fluss auf einer Brücke, die aus
handgedrehten Seilen und Holzbohlen bestand. Quer und lose waren die Hölzer
über die Seile gelegt und erlaubten dem Bus die Passage deshalb nur im
Schritttempo. Als die Trageseile der Brücke plötzlich samt Bus und uns
- sozusagen dem Inhalt - zu stark schwankten, hielt der Fahrer einfach
an, bis die Schwingungen sich allmählich wieder beruhigten. Halten die
Seile, oder...? Eine bange Frage, die man sich stellt, wenn man bei
solch einer Situation im Bus sitzt, die uns besonders beim Blick auf das
geflochtene Seilmaterial schon mal beschäftigte. Aber hier waren
vietnamesische Maßstäbe gültig, außerdem klappte alles - wir überlebten
es ja. Die Seile hielten… Das würde aber nicht das "letzte"
Erlebnis dieses Tages bleiben, denn allen war klar, diese "Brückenpassage"
stand uns auf dem abendlichen Rückweg nochmals bevor, andere Straßen
oder Wege gab es zu der Zeit noch nicht.
Hanoi - "Stadt innerhalb der Flüsse"
Hanoi - damalige Hauptstadt Nordvietnams, in der Landessprache:
Pho Ha Noi, was soviel wie "Stadt innerhalb der Flüsse"
bedeutet - (sie liegt zwischen dem Roten Fluss, dem Hoan-Kein-See und
dem Ho-Tay = West-See)
Hanoi empfing uns mit dem Lächeln der Sonne. Überall sattes Grün,
Parks, alte Bausubstanz verschiedenster Prägungen und das typisch
asiatische Stadtbild, denn viele Häuser trugen Pagodendächer. Das
alles im hellen Sonnenschein, so prägte sich der Eindruck von der
Millionenstadt Hanoi in meine Erinnerung. Die Quirligkeit Hanois ist
nicht verwunderlich, denn hier leben verschiedene ethnische Gruppen wie
die Thanh, die Pho und die Muong, erfuhren wir. Und jede Völkergruppe
hat eigene, voneinander unterschiedliche Traditionen, Bräuche und
Gewohnheiten, die gepflegt und gelebt werden. Davon bekamen wir
allerdings in der kurzen Zeit nicht viel mit.
Höhepunkte unseres Besuches waren: Eine Stadtbesichtigung, der Besuch
der Altstadt mit dem "Viertel der 36 Gassen" und der Besuch
des uralten Jade- und des Literaturtempels. Auch die Ein-Säulen-Pagode
und natürlich ein Besuch des Revolutionsmuseums standen noch auf dem
Programm. Zum Glück reichte die Zeit für die Anzahl der Tempel,
Pagoden und Museen nicht - das aber blieb unausgesprochen. Denn direkte
und eventuell kritische Bemerkungen, und seien sie noch so harmlos
gemeint, kommen in Asien nicht an - man umschreibt es in diplomatischem
Stil.
In Vietnam sieht die Straßenverkehrsordnung den Rechtsverkehr vor. Aber
alle Verkehrsteilnehmer schienen das noch nicht so genau zu wissen, denn
man fuhr einfach dort, wo sich Platz bot. Fahrräder zählten in den
1960er Jahren zu Hauptverkehrsmitteln. (Heute sind es die Mopeds, die
sogar auch als Mopedtaxi fungieren. Allerdings gibt es jetzt bei Überladung
empfindliche Bußgeldstrafen. Man darf laut Beförderungsordnung max.
zwei schwere oder drei leichte Passagiere befördern. Das Gewicht der
Passagiere wird scheinbar vom Verkehrspolizisten geschätzt...) Gerne hätte
ich damals auch einen Blick ins berühmte Thang Long geworfen, dem
jahrhundertealten Wasserpuppentheater, aber der nächste Höhepunkt, das
Mittagessen, wartete bereits seit geraumer Zeit in der Vertretung auf
uns.
Einige Fettnäpfchen
Auch wenn es jetzt ans Essen ging und wir die Gäste waren, Fettnäpfchen
wollten wir natürlich vermeiden. Wir wussten, dass Vietnamesen bei der
Begrüßung die rechte Hand des Gegenübers mit beiden Händen umschließen
würden, dass kurze Hosen an Männern unerwünscht und schwarze Hosen für
Damen tabu waren, denn vietnamesische Frauen tragen schwarze Hosen oft
nur während ihrer "unreinen" Tage und würden dann Tempel und
Pagoden nicht betreten. Die waren jedoch Bestandteil unserer
Stadtbesichtigung in Hanoi. Traditionell ziehen Vietnamesen beim
Betreten einer Privatwohnung die Schuhe aus. Ausländern gestatten sie
aber, die Schuhe anzubehalten. Aus Höflichkeit zieht man sie am Eingang
dann aber doch aus. Alle hatten sich nach der Information über
"Fettnäpfchen" auf die landestypischen Besonderheiten
eingestellt, allerdings blieb da noch die Sache mit dem Ausziehen der
Schuhe... Wir brauchten zum Glück unsere Schuhe nicht ausziehen, es war
ja offizielles Gebäude der deutschen Vertretung. Ansonsten wäre es
wohl peinlich geworden, denn einige trugen "Sommersocken", das
sind die mit den großen Luftlöchern, und andere, wie ich auch,
steckten aus Gewohnheit barfuß in den Schuhen, es war ja ein heißes
Klima, und mit Zecken mussten wir hier doch nicht rechnen.
Essen und Zahnschmerz
Ein vietnamesischer Koch bereitete das Essen, und wir durften uns
deshalb auf die Originalität vietnamesischer Speisen freuen, obwohl man
sich bei einigen Häppchen fragte, ob es das war, was man vermutete,
oder…? Wir wussten, dass die asiatische Küche gegenüber der europäischen
sehr viel mehr verwertet, und dass Speisetabus in Vietnam unbekannt
sind. So braucht man sich nicht über Insekten, Schlangen oder gar Hunde
im vietnamesischen Speisenangebot wundern, man sollte sich nur vorher
informieren. Der vietnamesische Koch wusste hoffentlich, welche Speisen
und wie viel "landestypisch" er uns Europäern zumuten konnte.
Wir kamen durch eine große Eingangstür in das Foyer, und es duftete
verführerisch. In einem Salon war das Essen für uns auf vielen
Tabletts appetitanregend als Büffet angerichtet. Geschmortes Hühnerfleisch,
eine Art Rindergulasch, gebackener Fisch, Suppen, Berge von Frühlingsrollen
mit unterschiedlichen Füllungen von süß bis scharf und Gemüsen, die
in Vietnam nur bissfest gegart werden. Reis oder Reisnudeln werden
wahlweise dazu gegessen. Reis und nicht Fleisch oder Fisch ist in
Vietnam das Grundnahrungsmittel. Ungewohnt, aber nicht unangenehm der
Geschmack des Ingwer, der neben schwarzem Pfeffer und Chili das Hauptgewürz
zu sein schien. Alle Ängste und Befürchtungen waren im Nu vergessen,
und uns allen lief das Wasser im Mund zusammen - wir spürten einen
echten "Bärenhunger". Sowieso war ein original asiatisches
Buffet für uns nicht alltäglich. Nachdem wir uns gegenseitig
versicherten, dass Fisch-, Geflügel-, Rind- und Schweinefleisch, nicht
aber irgendwelche berüchtigte landestypischen Leckerbissen vor uns
liegen, ließen wir unserem Appetit freien Lauf.
AUTSCH - plötzlich durchfuhr es mich heftig wie von einem elektrischen
Blitz getroffen - einer meiner Backenzähne hatte irgendein Problem und
gab ausgerechnet beim lang ersehnten Essen Signal. Auf der Stelle war
mir der Appetit verflogen. Ab diesem Moment konnte ich nur noch wie
durch Nebel zuschauen, wie die anderen das Mahl genossen haben. Dass ich
nicht mehr zulangte, bekam keiner mit, alle waren mit Reinhauen beschäftigt.
Erste Hilfe gegen den Zahnschmerz erhielt ich dann doch durch das
Personal der Vertretung. Nelken sollte ich kauen, um meinen Zahn zu
beruhigen.
Der knackige Nachtisch schmeckte allen, die ihn aßen, obwohl keiner
genau wusste, woraus er bestand. Gegrillte, kandierte Insekten, geröstete
Grillen in Fruchtzucker...? Egal, alles war wunderschön mit Obst
garniert. Es muss geschmeckt haben, denn die übliche Frage "Was
ist das?" kam gar nicht nicht auf. Aber das erreichte mich
irgendwie nicht, denn ich konnte ja sowieso nicht mehr zubeißen, und
die anderen fragten nicht, sie genossen nur und schluckten alles. Hätte
ich jetzt laut gefragt, wäre das vielleicht schlagartig anders
geworden.
Runtergespült wurde abschliessend mit Tee, zum Glück nicht mit
irgendwelchen makabren Aufgüssen, in denen z.B. ganze Schlangen im
Alkohol stecken. (Wenn der Alkohol ausgetrunken ist, erfolgt für die Männerrunde
ein neuer Aufguss auf den Schlangenkörper. Dies soll die Potenz stärken...)
Nein, wir waren mit dem heißen, wohlriechenden Tee vollkommen
zufrieden.
Schmerzen weg - Essen weg
Später waren meine Schmerzen verflogen, leider lag das Essen aber
auch schon mehr als eine Stunde hinter uns, denn wir saßen nach einer
herzlichen Verabschiedung wieder im Bus, nun jedoch in umgekehrter
Fahrtrichtung. Jeder hatte Zeit, in sich zu kehren und die Erlebnisse
des Tages sacken zu lassen. Die Passage über die "Schaukelbrücke"
erregte kein Gemüt mehr. Man war zu müde, um kein Vertrauen zu haben.
Einige verschliefen die Überfahrt sogar ganz.
Am Ende des Ausflugstages
Den Fahrer beneideten wir nach der Ankunft am Schiff wirklich nicht,
denn der arme Teufel musste nach der anstrengenden Tour bald wieder
umkehren und mit den Austauschpersonen der Vertretung nach Hanoi zurückfahren.
Lenkzeiten - Fehlanzeige. Aber auch dank ihm war es für uns ein
erlebnis- und lehrreicher Ausflug, von dem sich die Erinnerungen
regelrecht einbrannten, die noch immer gewärtig sind, trotz
ausgefallener Fotos, denn unsere Fotoapparate hatten an Bord zu bleiben,
in Spinden verschlossen, von vietnamesischen Behörden versiegelt. |
Herzlichen Dank an Stephan für
sein Erlebnisbericht vom anderen Ende der Welt.
"Hanoi mit Zahnweh": Seeleute Rostock
e.V., August 2011 |
Zusammenfassung dreier weiterer Stories von
Stephan Bohnsack, Rostock
"See-WehWehen": Seeleute Rostock e.V., Juli
2019
|
|
26.05.2022 |
|
|
|
"Tradi" - Fakten |